Warum sich Fan-Verbände vor der EM große Sorgen machen (2024)

Es sind keine zwei Wochen mehr bis zum Start der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Die reguläre Saison ist praktisch beendet, deshalb stellt der Dachverband der Fanhilfen sein Jahresbericht vor. Der Verein sorgt sich vor einer "Eskalationsspirale der Polizei".

Eigentlich haben Fußball-Fans in Deutschland die besten Voraussetzungen, sich auf den Sommer zu freuen. Die Bundesliga war in der abgelaufenen Saison die europäische Liga mit dem höchsten Schnitt an Zuschauenden. Und - deutlich wichtiger - es sind keine 20 Tage mehr, bis die Europameisterschaft im eigenen Land startet. Volle Stadien, bestes Wetter, ein vielversprechendes DFB-Team: Es soll eine Party werden, die für vier Wochen und die Zeit danach das Land einen soll.

Beste Rahmenbedingungen also? Nicht für alle, sorgt sich der Dachverband der Fanhilfen. Ausgerechnet der Zusammenschluss aus den 23 deutschen Fanhilfen blickt mit gemischten Gefühlen auf das große Fußballfest. Denn das Großereignis warf seine Schatten schon voraus: Bereits die abgelaufene Saison sei geprägt von polizeilichen Übergriffen auf Fans gewesen, sagt Vorstandsmitglied Linda Röttig in einer Medienrunde. "Wir sehen das als Angriff auf die Fankultur. Das sind massive Eingriffe in die Freiheits- und Bürgerrechte."

Erstmals hat der Dachverband einen Saisonbericht erstellt, der Fälle von überzogener Polizeigewalt dokumentieren soll. Herausgekommen ist ein 25-seitiges Papier, das beispielhaft insgesamt 24 Vorfälle aus den ersten drei Ligen auflistet. Die meisten, so Röttig, seien deutlich über die Stränge geschlagen. Ihr pflichtet Oliver Wiebe von der Fanhilfe Magdeburg bei. Der Vorwurf: Die Polizei habe den Liga-Alltag genutzt, um Einsatztaktiken für die anstehende EM zu üben und Fans einzuschüchtern, kritisiert der Verein.

Drei Fälle, jeder wirft Fragen auf

Die Liste, die der Fan-Lobbyverein vorlegt, reicht von Schusswaffengebrauch über Reizgaseinsätze im voll besetzten Fanblock bis zu sechsstündigen Kontrollen in einem Regionalzug. "Das ist nicht zu rechtfertigen und eine Eskalationsspirale der Polizei, die aufhören muss - gerade im Hinblick auf die EM", erklärt Röttig. Einige Vorfälle wurden öffentlich breit diskutiert, andere weniger. Sie präsentiert drei Beispiele, die exemplarisch zeigen sollen, was sie meint.

Etwa das gefährlichste und skurrilste Beispiel: Im Vorfeld des Bundesligaspiels von Borussia Mönchengladbach beim FC Augsburg am 19. August 2023 löste sich ein Schuss aus einer Dienstwaffe. Bis heute ist unklar, wie es dazu kommen konnte. So sollen sich die Polizeibeamten wegen der hohen Außentemperaturen mit Wasser bespritzt haben, dabei sei es zur Schussabgabe gekommen. Die Kugel traf einen Gladbacher Fanbus, in dem glücklicherweise niemand saß. Doch in der Statistik tauchen nun die fünf verletzten Polizisten auf, vier mit Knalltrauma und einer mit Schürfwunde - auch wenn das Fußballspiel selbst damit gar nichts zu tun hat.

Für Aufsehen sorgte auch der Reizgaseinsatz in Auswärtsblock von Hannover 96 am 10. November 2023 beim FC St. Pauli. Nach Angaben der Fanhilfen waren die Feindseligkeiten zwischen zwei 96-Gruppen schon gelöst, als die Polizei in die Menschenmenge schritt und dort Reizgas versprühte. Eine höchst umstrittene Taktik: Reizgas könne bei den Beteiligten selbst für eine aggressive Grundstimmung sorgen und damit eine Massenpanik auslösen, erklärt Röttig. Auch in der Fußballwelt ist das umstritten: Die FIFA schließt den Einsatz im Stadion-Innenraum aus, bei der Champions League der UEFA ist das auch untersagt.

Der wohl meistdiskutierte Fall ereignete sich nach einem HSV-Auswärtsspiel gegen Hansa Rostock. Die Partie selbst blieb am 17. Februar 2024 ohne größere Zwischenfälle. Probleme gab es erst auf dem Rückweg, mitten in der Nacht. Über sechs Stunden wurden insgesamt 855 HSV-Fans in einem Regionalzug in einem Hamburger Bahnhof festgehalten - Zeugenberichten zufolge zunächst ohne Wasser. Die Beamten suchten nach 60 Verdächtigen, die wenige Monate zuvor an einer Schlägerei beteiligt gewesen sein sollen.

Die Bundespolizei nannte den Einsatz "verhältnismäßig". Doch schon damals äußerten Fanhilfen und Politik scharfe Kritik. Das sei unverhältnismäßig gewesen, sagt auch heute Röttig. Die Maßnahme dauerte bis in die frühen Morgenstunden und von ihr waren auch Frauen betroffen, obwohl die Verdächtigen männlich waren. Das Problem ist jedoch ein anderes: "Genau dieser Einsatz wurde schon in einer Übung simuliert", sagt Röttig. Also das Festhalten und Durchsuchen einer großen Fan-Gruppe in einem Zug, eben für die Europameisterschaft. Das sei auch so nie dementiert worden.

Ein "echter Kraftakt"

Das Großereignis Europameisterschaft wird zur Herausforderung für alle Beteiligten. Vom 14. Juni bis zum 14. Juli werden mehr als 2,7 Millionen Menschen in den Stadien erwartet, viele mehr auf den Fanmeilen der Austragungsorte. Bei den Sicherheitsbehörden sorgt das auch für Nervosität. Die Polizei Hamburg beispielsweise etwa sprach von einem "echten Kraftakt", der sie an ihre "Belastungsgrenze" führen werde.

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Der "Spiegel" berichtete jüngst darüber, dass sich zahlreiche Behörden schon seit Langem auf das Großereignis vorbereiteten. Der Islamische Staat, russische Hacker oder auch gewaltbereite Fan-Gruppierungen seien Themen. Die Sorge vor Terroranschlägen ist groß, beim Polizeikongress vor einigen Wochen in Berlin hieß es laut "Spiegel", die Sicherheitslage sei alles andere als entspannt - und dennoch wolle man keine unnötigen Ängste schüren.

Zudem gibt es ein weiteres Problem, das machte Michael Mertens, stellvertretender Vorsitzender der Polizeigewerkschaft GdP, im RBB deutlich. Es sei nicht so, dass die Behörden einfach ihr Sicherheitskonzept von der Weltmeisterschaft 2006 aus der Schublade holen können. "Die Sicherheitsanforderungen und die Bedrohung durch den Terror haben die Welt und solche Großereignisse verändert", sagte er. "Wir müssen auf mehr achten, als das im Jahr 2006 der Fall war."

Erinnerungen an 2006

Und so gibt es auch Rufe nach neuen, schärferen Polizeimaßnahmen. Angefangen bei flächendeckender Drohnenüberwachung, über eine Polizei-KI, Sofortverfahren noch in den EM-Stadien, auch der Wunsch nach biometrischer Videoüberwachung wurde geäußert. Es ist ein heikler Grat: Was schneidet die Grundrechte zu sehr ein? Was ist noch angemessen? Der Deutsche Anwaltverein merkte kürzlich an, das Augenmaß nicht zu verlieren und Überwachungsmaßnahmen einzuführen, die Verfassungsgerichte wieder zu Recht kassierten. Unterdessen sorgt sich der Fanhilfen-Dachverband, dass einmal eingeführte Maßnahmen auch für die Zeit nach dem Turnier bleiben.

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Schon bei der Weltmeisterschaft 2006, dem Sommermärchen, sei das so gewesen, deutet Wiebe an. In Magdeburg gab es im Vorfeld des Turniers sogenannte Gefährderansprachen. Polizisten suchten Fans zu Hause, auf der Arbeit, in der Schule auf, um sie davor zu warnen, eine Straftat zu begehen. Oder erteilten ihnen Betretungsverbote: Einigen, so Wiebe, sei verboten worden, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Bereich aufzuhalten. Bis heute setzten die Behörde diese Mittel ein, sagt er.

Nur, wie ließe sich all das vermeiden? Die Fanhilfe hat drei konkrete Forderungen an alle Beteiligten. Ein großes Anliegen ist, endlich ordentlich zwischen Terroristen und Fußball-Fans zu trennen. "Da braucht es ein Statement des DFB, das eine Lanze für die Fans bricht", sagt Wiebe. Zudem wiederholen sie die Forderung nach einem Pfeffersprayverbot, wie es in anderen Wettbewerben schon üblich ist. Und: Gefordert wird auch die Einrichtung eines Runden Tischs "Polizeigewalt", bei dem alle Beteiligten - Ministerien, Polizei, NGOs - miteinander reden. Bislang habe es das noch nicht gegeben.

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Author: Greg O'Connell

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